Das deutsche Dorf, das durch eine Mauer geteilt wird

Die kleine Bauerngemeinde Mödlareuth, die auf halbem Weg zwischen Berlin und München im ländlichen Deutschland liegt, zählt etwa 50 Einwohner und hat nur eine Kneipe. Und doch zieht es jedes Jahr Zehntausende von Besuchern an.

Bei der Ankunft ist der Grund dafür klar. Zwischen den 18 Häusern und Bauernhöfen befindet sich ein 100 m langer Streifen weißer Betonmauer, die einst Teil der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland war.

Physikalisch getrennt von der berühmteren Berliner Mauer war die innerdeutsche Grenze fast 1.400 km lang und trennte Ost- und Westdeutschland von 1949, als die Sowjets die DDR gründeten, bis zum Fall der Grenzanlagen im Jahr 1989. Mödlareuth lag direkt in ihrem Verlauf, was bedeutet, dass während dieser Zeit ein Teil des ruhigen Dorfes im sozialistischen Osten und der andere im kapitalistischen Westen lag.

Das Betonteil ist heute Teil des Mödlareuth-Museums, zusammen mit einem Wachturm, Metallzäunen, einer Rekonstruktion der stark befestigten Barriere und anderen Relikten. Die bereits erwähnte, 2002 eröffnete Kneipe heißt „Zum Grenzgänger“, und das Dorf ist immer noch als „Klein-Berlin“ bekannt.

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Heute haben mit Kameras bewaffnete Touristen den Platz der bewaffneten Wachen eingenommen. Und während Besucher und Einheimische heute mühelos von einer Seite des Dorfes zur anderen gehen können, ohne die alten Warnschilder zu beachten, überqueren sie in Wirklichkeit immer noch eine andere, weniger sichtbare Grenze: die Grenze zwischen den Bundesländern Bayern und Thüringen.

Die Geschichte, wie dieses Dorf einst zu zwei gegensätzlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen gehörte – und wie sich die Grenze heute noch manifestiert – ist eine faszinierende Geschichte. Sie beginnt mit dem Tannbach.

Im Jahr 1810 wurden am Ufer des Tannbachs Grenzsteine aufgestellt, die zwei deutsche souveräne Staaten abgrenzten: das neu entstandene Königreich Bayern und das Fürstentum Reuss jüngerer Linie. Diese Steine, auf denen die Initialen KB“ und FR“ eingraviert sind, sind noch heute zu sehen. Beide Seiten wurden 1871 Teil des vereinigten Deutschen Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg, mit der Bildung der Länder Bayern und Thüringen, deren Grenze entlang der gleichen Linie wie die Steine verlief, übernahm der Bach eine neue Rolle.

Das Dorf ist immer noch als „Klein-Berlin“ bekannt

Es dauerte jedoch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, bis diese Wassergrenze das Dorf und seine Bewohner an die Frontlinie der Spannungen brachte, die Europa für Jahrzehnte teilen sollten.

Im Jahr 1945, als das Nachkriegsdeutschland in vier Besatzungszonen unter der Kontrolle der Alliierten (Vereinigte Staaten, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion) aufgeteilt wurde, war auch Mödlareuth geteilt. Die im Londoner Protokoll von 1944 festgelegten Demarkationslinien führten dazu, dass Thüringen an die Sowjetunion und Bayern an die Amerikaner fiel. Während Berlin absichtlich geteilt wurde, war Mödlareuth höchstwahrscheinlich nicht auf dem Radar der Staats- und Regierungschefs, was bedeutete, dass es zufällig ins Kreuzfeuer geriet.

Zunächst war es den Dorfbewohnern noch möglich, über den Bach hin und her zu gehen, auch wenn sie für eine Dokumentenprüfung angehalten werden konnten. Doch als die Spannungen zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten im Zuge des Kalten Krieges zunahmen, markierte der Tannbach einen immer größer werdenden Graben.

Im Jahr 1949 wurde der Bach Teil der Grenze zwischen der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (Ostdeutschland) und der Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland). Er verlief von der Ostsee bei Lübeck im Norden bis zur nordbayerischen Grenze im Osten, wo er auf die Tschechische Republik traf und den nordöstlichen Zipfel Deutschlands als Ostdeutschland abtrennte. Während entlang der gesamten Grenze Menschen und Orte geteilt waren, spaltete sie in Mödlareuth eine kleine Gemeinde.

Die Trennung verschärfte sich 1952, als die DDR die Ost-West-Grenze (ohne Vorwarnung) schloss, um eine weitere massenhafte Abwanderung nach Westdeutschland zu verhindern.

Die Bewohner sahen zu, wie die Grenze immer stärker befestigt wurde, zunächst mit einem 10m langen Kontrollstreifen, dann mit Zaun, Stacheldraht und schließlich 1966 mit einer Betonmauer. „Mödlareuth war ein besonders bebauter und gut bewachter Teil der Grenze“, erklärt Robert Lebegern, Direktor des Museums, und führt dies auf die Nähe von Wohnungen und Menschen auf der östlichen Seite der Grenze zurück. Später wurden entlang der Mauer im Osten Mödlareuths Minen zur weiteren Abschreckung installiert.

Mit einer Länge von 700 m und einer Höhe von 3,3 m, ohne Kontrollpunkt, trennte die Betonmauer von Mödlareuth das Dorf regelrecht ab. Sie wurde fünf Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer im Rahmen der fortlaufenden Verstärkung der innerdeutschen Grenze errichtet, und der Begriff „Klein-Berlin“ wurde bald darauf von den US-Truppen geprägt.

Die Auswirkungen dieser feindlichen Teilung in einer kleinen Gemeinde sind schwer zu begreifen. Bilder aus dieser Zeit, die im Museum zu sehen sind, vermitteln einen Eindruck von der visuellen Dominanz. Doch die Grenze war weit mehr als nur ein Schandfleck, vor allem für die Bewohner von Ost-Mödlareuth, die mit Einschränkungen wie nächtlichen Ausgangssperren, Reisebeschränkungen und dem Verbot von Versammlungen nach Einbruch der Dunkelheit konfrontiert waren.

Während die eine Seite des Dorfes von der Welt abgeschottet war, war die andere plötzlich offen

Und während die eine Seite des Dorfes von der Welt abgeschottet war, war die andere plötzlich offen. Besucher aus Westdeutschland und darüber hinaus begannen nach West-Mödlareuth zu reisen, um sich Klein-Berlin aus der Nähe anzuschauen. Sogar der ehemalige Vizepräsident George HW Bush machte 1983 während eines offiziellen Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland auf der westlichen bayerischen Seite Halt. Später schickte er den Dorfbewohnern eine Glückwunschbotschaft, als die Grenze 1989 wieder geöffnet wurde.

Die Entscheidung, ein 100 m langes Stück der Mauer zu erhalten, hat das Interesse an dem Dorf noch lange nach dem Ende des Kalten Krieges aufrechterhalten. Doch abgesehen von den Überresten der geteilten Vergangenheit und den Touristenmassen, die sie besichtigen wollen, hat sich das Alltagsleben in Mödlareuth mehr oder weniger wieder normalisiert – obwohl eine politische Grenze immer noch besteht.

Während diese Grenze zwischen den Bundesländern Bayern und Thüringen für Tagesausflügler schwerer zu erkennen ist, führt sie zu einer Reihe wichtiger Unterschiede zwischen den beiden Seiten. Sie haben unterschiedliche Postleitzahlen, Autokennzeichen und Vorwahlen. Es gibt zwei Bürgermeister. Einige Feiertage sind unterschiedlich. Und für Dorfkinder kann es sogar entscheidend sein, welche Schule sie besuchen.

Die Grenze beeinflusst auch die Identität. „Die Dorfbewohner sind in erster Linie Mödlareuther, aber sie sind auch entweder Thüringer oder Bayern“, erklärt Lebegern und fügt hinzu, dass es nicht selten vorkommt, dass jemand von der thüringischen Seite sagt, dass er zu den Bayern geht oder andersherum. In einem Land, das auf dem Föderalismus basiert, ist dies eine wichtige Unterscheidung.

Den 9. November 1989 verbindet man meist mit dem Fall der Berliner Mauer, aber in dieser Nacht wurden auch entlang der gesamten innerdeutschen Grenze

Eine gute Möglichkeit, den Unterschied zwischen den beiden Seiten zu erkennen, ist, auf die Begrüßungsformeln zu achten. Die Thüringer, die in Ostdeutschland lebten, neigen dazu, „Guten Tag“ zu sagen, ein deutscher Standardgruß, während die Bayern „Grüss Gott“ sagen, etwas, das man häufig in Süddeutschland (und Österreich) hört.

Interessanterweise sind diese alternativen Begrüßungen Teil einer breiteren Trennung der Dialekte, die während des Kalten Krieges stattfand. Eine wissenschaftliche Analyse von Sprachproben aus dem Jahr 2010, die kurz nach der deutschen Wiedervereinigung gesammelt und von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde, ergab, dass die innerdeutsche Grenze eine Trennung der Dialekte entlang politischer Linien bewirkte. Dieser sprachliche Trennungsprozess, der bei einer relativ offenen Grenze Jahrhunderte gedauert hätte, resultierte aus der geringeren Interaktion zwischen den beiden Seiten und einem größeren Einfluss aus dem weiteren Umland.

Ein weiterer Unterschied, auf den man in Mödlareuth achten sollte, ist das Rollen von „r „s, was die Bayern tun und die Thüringer nicht. Heute gibt es diese Dialektunterschiede in Mödlareuth immer noch, wenn auch etwas abgeschwächt durch die Rückkehr zum integrierten Dorfleben. Die Dorfbewohner haben jetzt zum Beispiel einen gemeinsamen Weihnachtsbaum und einen Maibaum. Auch den bevorstehenden 30. Jahrestag des Mauerfalls werden sie gemeinsam feiern.

„Die meisten Menschen verbinden den 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer, aber in dieser Nacht wurden auch die Kontrollpunkte entlang der gesamten innerdeutschen Grenze geöffnet“, so Lebegern. Innerhalb weniger Stunden konnten die Menschen nicht nur von Ost-Berlin nach West-Berlin, sondern auch von Ost-Deutschland nach West-Deutschland reisen.

Da Mödlareuth keinen Kontrollpunkt hatte, musste ein Teil der Mauer abgerissen werden, bevor die Bewohner die Grenze ihres Dorfes überschreiten konnten. Genau einen Monat später, am 9. Dezember, wurde auf zunehmenden Druck der Anwohner ein kleiner Übergang für Fußgänger offiziell eröffnet. Anstatt wie in Berlin Fremde auf einer mit Graffiti beschmierten Mauer zu vereinen, verband hier eine Lücke im Beton Nachbarn und Familienmitglieder wieder miteinander. Die Mödlareuther feierten mit einem Getränk (oder zwei) und aßen Thüringer Rostbratwurst, die seit Hunderten von Jahren in Thüringen hergestellt wird.

In der Woche vor dem 9. November 2019 beteiligt sich das Dorf an den bundesweiten Veranstaltungen zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls und der innerdeutschen Grenze. Dazu gehören eine Lichtinstallation entlang des Mauerverlaufs in Mödlareuth sowie ein Konvoi ostdeutscher Oldtimer durch den Ort.

Eine zweite Veranstaltung findet am 9. Dezember statt, um an den Tag der offiziellen Maueröffnung zu erinnern – mit dem Tannbach, der immer noch leise und konstant im Hintergrund fließt.

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