Multinationaler Staat

Der multinationale Staat ist ein Staat, der nationale Pluralität in einer bestimmten Form enthält, wobei eine nationale Minderheit nur innerhalb dieses Staates eine Art Binnenstaat bildet.

Nach Alain Dieckhoff wird der Begriff „multinationaler“ Staat oft verwendet, um ein zu breites Spektrum von Staaten abzudecken. Würde man jedes Land, in dem mehr als eine kulturelle oder nationale Gruppe vertreten ist, als multinationalen Staat bezeichnen, so fiele fast jedes Land unter diese Definition, was den Begriff seiner Bedeutung berauben würde.

Dieckhoff unterscheidet zwischen zwei Arten von nationaler Pluralität:

  • Die erste, bei der ein Staat eine Minderheit enthält, deren Mitbürger in einem Nachbarstaat die Mehrheit bilden, ist kein multinationaler Staat, sondern ein Nationalstaat, der eine nationale Minderheit enthält.

  • Die zweite ist, wenn ein Staat zwei oder mehr Nationen (oder historische/kulturelle Gemeinschaften) enthält. Es sind diese zweiten, die „interne Nationen“ enthalten, die Dieckhoff als multinationale Staaten betrachtet. Beispiele dafür sind Quebec in Kanada, Katalonien und Galicien in Spanien usw.

Diese interne nationale Vielfalt kann für einen Staat problematisch zu handhaben sein; sie kann von einer Regierung unterdrückt werden, die ein Bild nationaler Homogenität vermitteln will (wie China mit seinen tibetischen und uigurischen internen Nationen). In demokratischen Staaten (diese Beispiele stammen aus westlichen Ländern) wird diese Vielfalt durch territoriale oder nicht-territoriale Autonomie verwaltet.

Es ist sehr fraglich, ob multinationale Staaten lebensfähig oder stabil sind, da viele der Faktoren, die in nicht-multinationalen Staaten als kohäsionsfördernd gelten, wie Sprache und Geschichte, eher zu Spaltungen führen: „Offenheit für Vielfalt ist in multinationalen Demokratien von zentraler Bedeutung, muss aber durch eine gemeinsame öffentliche Kultur ausgeglichen werden, die den Willen zum Zusammenhalt unterstützt. Doch hier liegt eine große Herausforderung: Das oder die einheitsstiftende(n) übergeordnete(n) Prinzip(e) sollte(n) sowohl fest genug sein, um die Menschen miteinander zu verbinden, als auch flexibel genug, um die Autonomie der verschiedenen Teileinheiten zu bewahren.“ (1)

Beispiele

Belgien und die Schweiz sind Beispiele für zwei europäische multinationale Staaten, deren bisherige Geschichte zeigt, in welchen Formen ein multinationaler Staat lebensfähig sein kann. In Belgien scheint die Figur des Königs als stabilisierender Faktor und als einigendes Symbol wertvoll zu sein. Er wird als dem politischen Konflikt zwischen den Wallonen und den Flamen enthoben wahrgenommen. In Belgien ist jedoch ein problematischer Trend zu beobachten, bei dem die Politik beginnt, die sprachliche Kluft widerzuspiegeln, was dazu führt, dass Ereignisse in den verschiedenen Sprachmedien unterschiedlich behandelt werden. Das Ergebnis ist, dass die belgische Gesellschaft dazu neigt, in zwei isolierten Einheiten zu funktionieren, die nicht einmal auf der Ebene der nationalen Politik gemeinsame Interessen haben. In der Schweiz, die vier Sprachgruppen sowie eine Unterteilung in katholisch und protestantisch aufweist, haben diese Unterschiede den Vorteil, dass sie übergreifend sind: Die religiöse Unterteilung entspricht nicht den Sprachgruppen. Dies bedeutet, dass es trotz teilweise heftiger innerer Konflikte keine tiefen inneren Verwerfungen gibt. Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass sich die Menschen innerhalb der Schweiz mit ihren Kantonen identifizieren, die nicht alle mit sprachlichen oder politischen Unterschieden übereinstimmen.

Quellen

  • Dieckhoff, A. (2010) ‚Multinational democratic States: a reassessment‘ in Rethinking the state: Understanding the processes of post-crisis state transformation Bruylant: Brussels

Notes

  • (1) : Dieckhoff (2010) Multinational democratic States: a reassessment.

  • Diese Konzeptdefinition wurde als Ergebnis der Arbeiten der internationalen Konferenz Post-crisis state transformation: Rethinking the foundations of the state“ in Linköping, Schweden, vom 1. bis 5. Mai 2009. Diese Konferenz wurde von Modus Operandi in Zusammenarbeit mit der Université Pierre Mendès France (Grenoble, Frankreich) und der Europäischen Wissenschaftsstiftung durchgeführt.

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